Frankfurter Allgemeine Magazin Heft 188 / Okt. 1983 - Futurismus
Titelbild: Deformation oder: Die fröhliche Witwe. Als die Fotografie noch zu den neuen, zukunftweisenden Medien zählte, setzte sich der Futurismus mit ihr ins rätselreiche Bild
Original Inhaltsbeschreibung:
- Über Leute
- Schreiben als Variation des Lebens: John Updike: Volker Hage, Fotos Joel Meyerowitz
- Das Leben als Bewegung festhalten: Futuristische Fotografie 18: Sibylle Maus
- Siebzigste Fortsetzung des Notizbuchs: Johannes Gross
- Kalender der Woche
- Heimlichkeiten in der Bibliothek: Buchattrappen: Stella Baum, Fotos Marion Nickig
- Fragebogen: Andreas J. Meyer
- Schach: Roswin Finkenzeller
- Matchbox: Kreuzwort, Ortstermin, Streichholzspiel
Geniestreich oder Selbstbezichtigung auf der Rückseite
Das sieht ja ein Blinder, daß hier einer groß rauskommen will. Laut und deutlich steht da, daß Depero ein Genie ist, un genio. Was da nicht steht, ist „gez. Depero". Der italienische Gesamtkunstwerkler Fortunato Depero hatte mal diesen Tic, frühe Farbfotos von sich mit seinem Namenzug entweder großspurig zu umrahmen oder deren Rückseiten zu solchen Selbstbezichtigungen zu nutzen. Genial! Natürlich haben seine Freunde damals beifällig genickt und sich insgeheim geschworen, ihm postwendend einen noch originelleren Schach- oder Schriftzug zu schikken. Immerhin gehörte man, wenn man in Italien mit Avantgardemaß gemessen werden wollte, immer der selben Künstlergruppe an, und die hatte 1909 schon in ihrem Manifest gefordert: „Platz der Jugend, den Gewalttätigen, den Verwegenen". Platz da! Aber das Genie, so heißt es, findet sich immer hundert Jahre zu früh auf der Welt. Deshalb konnte auch jenes verwegene italienische Grüppchen, das da ins zwanzigste Jahrhundert hineinstürmte, die eigene Zukunft nicht abwarten: „Wir wollen unerbittlich gegen den fanatischen, unverantwortlichen und snobistischen Kult der Vergangenheit kämpfen, der sich aus Museen ernährt." Hin damit und her mit der Zukunft —und ab ging's mit „Dynamismus" und Technikrausch durch Soireen, Expositionen, Galerien und Gazetten unter dem richtungsweisenden Titel „Futurismus". Mit ih-rem permanentem „dinamismo" machten Italiens Futuristen noch Furore, inszenierten noch Randale und genossen ihre Skandale, als hierzulande der Anbruch einer tausendjährigen Zukunft derlei ein Ende machte. Und weil es die Funktion des Genies ist, wie Aragon ketzert, die Cretins zwan-zig Jahre später mit Ideen auszustatten, haben Futurismus uns viel Nachahmens- und Sehenswertes hinterlassen. Experimentelle Fotos beispielsweise, die das Wesen im Witz, das Frappante im Drapierten haben. Genial. Beim Genie aber, sagte man immer schon, ist es wie beim Geld. Die's nicht haben, reden immer davon. Will also lieber nichts gesagt haben. Die Fotos sprechen für sich.
Udo Pini
Heft Nr. 188 / 40 Woche vom 7 Oktober 1983
Seitenanzahl: 58 Seiten
Eigenschaften von diesem Artikel
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